Situation 2012 vor Ort
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23.09.2012, 08:33
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RE: Situation 2012 vor Ort
Hallo Günter, hallo zusammen, vor einigen Tagen sind wir von unserem diesjährigen Aufenthalt auf Korfu zurückgekehrt.
Natürlich war auch oft "die Krise" Inhalt der Gespräche, die ich mit meinen griechischen Freunden führte. In meiner Umgebung wurde die Situation schon als beschwerlich wahrgenommen - vor allem, was den verhaltenen Tourismus betrifft. Jedoch wurde mir auch erzählt, dass die tatsächlichen Ausmaße des Elends hauptsächlich in den großen Staädten (Thessaloniki, Athen) sichtbar seien. Tatsächlich habe ich nicht die Befürchtung, dass einer meiner Freunde verhungern müsste; aber eine Familie, die ich schon sehr lange kenne, bekommt die Auswirkungen volle Breitseite ab: Giagia und Papus Rentner; der Papus wurde einen Tag vor unserer Ankunft von einem anderen Papus mit Motorroller überfahren; jetzt liegt er im Krankenhaus, Hirnblutung, seither im Dämmerzustand. EIN Krankenpfleger betreut 45 Patienten. Nach 10 Tagen wurde dem Papus quasi der Hahn zugedreht: Infusionen wurden abgehängt. Kommentar des Arztes: Er ist jetzt stabil und muss von selbst anfangen zu essen und zu trinken. Mangels Pflegepersonal ist natürlich die Giagia 24/7 bei ihrem Mann. Sie bewältigt sämtliche Grundversorgung selbst, schläft auf einem Stuhl neben dem Krankenbett. Sie schafft es allerdings nicht, ihrem Mann mit dem Löffel mehr als 200ml Flüssigkeit täglich zu verabreichen. Trotzdem gibt es keinerlei Anstalten der Klinik, den Mann mit Flüssigkeit zu versorgen; "er muss es halt selbst schaffen". Die Motivation des Personals ist am Nullpunkt; monatelang kein Salär. Dem Sohn wurde im Winter vom Dimos gekündigt, dann Herzprobleme, jetzt teure Untersuchungen in Ioannina. Eine Familie mit wenig Eigentum, aber immerhin mit Hühnern und Ziegen, ein Leben am Minimum. Immerhin gibt es den Enkel: Lykeio vor einigen Jahren abgeschlossen. Jetzt Servitoros, 6 Monate Saison bei 700€/Monat plus Trinkgeld, dann Karten spielen.... vielleicht ne Fahrt nach Athen. Im Gegensatz dazu die Arbeitgeberfamilie des Enkels; auch schon sehr lange mit mir befreundet: 3 Brüder führen das Restaurant. Angegliedert, wie so oft einige Zimmer und Appartments, alles direkt am Strand. Die Jungs sind sehr gut organisiert, Qualität in Service und Küche stimmen. Von ihnen keinerlei Klage über die Situation. Überhaupt sind überall dort, wo die Qualität stimmt, wenig Klagen zu hören. Grob gesagt, die kompetenten Leute mit Eigentum kriegens hin. Zumindest dort vor Ort. Und da bin ich an dem Punkt, wo all mein Nachdenken über Wege aus der Krise immer hin mündet: Kompetenz. In meinen Jahren, die ich auf Korfu gelebt und gearbeitet hatte, war Kompetenz in den Bereichen, in die ich Einsicht hatte, nur rudimentär vorhanden. Egal ob Koch oder Fischer, Landwirt oder Bauunternehmer. Sie alle hatten ihr wissen von Hörensagen und Learning by doing. Ein Bildungssystem im handwerklichen Bereich war zwar vorhanden, wurde jedoch nur von einem Bruchteil der später in Handwerk und Agrarberufen tätigen Leute wahrgenommen (Ausnahme Elektriker). Da ich mich damit etwas intensiver gedanklich beschäftigt habe, kurz die Situation der Fischer: Kaum Fisch, Durchschnittsfischer (10-15m-Kaiki, 5km Stellnetz) leben am Minimum. Sie kennen alle die Plätze, wohin sich die letzten Fischchen verzogen haben, sie sind extrem geschickt darin, Fische aus dem Netz zu dröseln, legen und holen in Rekordgeschwindigkeit. Sie erkennen das Wetter am Wolkenduktus. Aber sie haben null Ahnung von der Fortpflanzungsbiologie ihrer Brotfische. Sie kennen kaum Zusammenhänge, haben kein Hintergrundwissen zu den Phänomenen, die sie wahrnehmen. Also zerstören sie ihre Lebensgrundlagen so völlig sinnlos und ohne Weitblick. Denn es geht ja hier nicht nur um die Menge der zu fangenden Fische, sondern um noch ganz andere Perspektiven, die intakte Ökosysteme den Bewohnern eröffneten: Tauch-, Angel- und Ökotourismus. Da steckt ja noch deutlich mehr drin als in jeglicher Fischerei. Denn in der Frischfischversorgung habe die Fischfarmen (Dorade und Wolfsbarsch) den klassischen Fischern längst den Rang abgelaufen. Es ist nicht so, dass die Leute sich nicht dafür interessierten, sich Hintergrundwissen anzueignen. Es gibt wohl einfach zu wenig Zugang. Die Literatur jedenfalls, die ich dieses und letztes Jahr dabei hatte, war im nu vergriffen.... So weit meine spontanen Eindrücke und Gedanken... Günter, du schreibst: "Bleibt nur zu hoffen, dass sich die Situation wieder entspannt,.." Mir klingt das zu passiv, aus meiner Sicht müsste es heißen: Bleibt nur zu hoffen, dass endlich ein Ruck durch die griechische Gesellschaft geht. Und da sehe ich eher fast schwarz. Es müsste genau an der Basis investiert werden: In ökonomisches, technisches und ökologisches Know-How für die breite Masse der Handwerker und Gewerbetreibenden. Denn die wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten des Landes sind eingeschränkt. Weite Teile des Landes sind für eine industrielle Entwicklung nur beschränkt geeignet. Die Perspektiven liegen m.E. eher in der "kleinteiligen" Wirtschaft: qualitativ hochwertiger Tourismus und ökologische Landwirtschaft mit genossenschaftlicher Vermarktung. Förderung aber erfahren die, die wissen, wo und wie man aus der EU Gelder abzapft, und das sind in der Regel die, die selbst in der Politik sitzen, oder zumindest eng mit der Politik verflochten sind. Das sind die, die Tourismus und Landwirtschaft als Industrie betreiben und nicht als Handwerk. KMU und Mittelstand werden bisher nicht unterstützt und das wird auch wohl nicht eintreten. Es ist, wie bei uns nach der Wende, wo sich Politiker bevorzugt bei Projekten ablichten ließen, wo mindestens 100 Millionen Mark versenkt wurden... Was hätte man damit den Handwerkern, Gewerbetreibenden und mittelständischen Unternehmen im Osten unter die Arme greifen können... Aber Gigantomanie scheint in der Politik Mode. Groß, schnell entschieden und ohne Weitsicht. Da haben sich die griechischen Politiker sicher einiges von unseren abgeguckt - und umgekehrt, wenn man sieht, welche Ausmaße der Lobbyismus in den vergangenen 30 Jahren angenommen hat. Ein reiches Land wird aus Griechenland nicht werden, aber es kann doch wieder wertvoll werden als Wohlfühl-, Bade- und Genuss-Oase für Europa. Man sehe mir den politischen Exkurs nach. Grüße, Andreas afbaumgartner, registriertes Mitglied von Andis Korfu Forum - Treffpunkt von corfu.de seit 11.8.11. |
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